„15 Monate taten sie so, als gäbe es uns nicht!“

Rede von Gülseren Dalip auf der Hauptversammlung der Thyssenkrupp AG am 2. Februar 2024 / Mutter des im Thyssenkrupp-Stahlwerk zu Tode gekommenen Leiharbeiters Refat Süleyman fordert Konzern auf, Verantwortung zu übernehmen

Rede von Gülseren Dalip und Ibrahim Özcan auf der Thyssenkrupp-Hauptversammlung 2024

Guten Tag, mein Name ist Gülseren Dalip und ich bin die Mutter von Refat Süleyman.

Mein Sohn arbeitete als Hausmeister bei Thyssenkrupp Steel in Bruckhausen. Er war bei der Leihfirma Eleman beschäftigt, die mit Thyssenkrupp zusammenarbeitet und sie mit Arbeitern aus Marxloh und Bruckhausen versorgt.

Seit 11. Oktober 2022 hat die Firma Eleman meinen Sohn zur Arbeit bei Thyssenkrupp geschickt. Am 14. Oktober ging mein Sohn zusammen mit seinen Kollegen zur Arbeit, kehrte aber nicht zurück. Wir haben ihn überall gesucht, wir haben Fragen gestellt, wir wollten Informationen. Wir sind zum Büro der Firma Eleman gegangen, wir haben stundenlang vor den Toren von Thyssenkrupp gesessen und wollten Antworten, aber stattdessen hat man uns rausgeschmissen, uns gesagt, wir sollen verschwinden, sonst rufen sie die Polizei.

Tagelang hat uns niemand Informationen gegeben, niemand hat uns gesagt, was mit unserem Jungen passiert ist. Thyssenkrupp sagte, er muss von der Arbeit weggelaufen sein, sie sagten, sie suchten nach ihm – sie hatten Hubschrauber, Hunde, Wärmekameras. Wir waren dabei, Familie und Freunde liefen Tag und Nacht um die Zäune des Werks herum, wir suchten ihn, wir sprachen mit seinen Kollegen und sie suchten ihn in den Arbeitspausen.

Drei Tage lang haben Thyssenkrupp und die Polizei meinen Sohn nicht gefunden, seine Kollegen haben ihn gefunden! Sie fanden ihn tot in einem Becken mit schwarzem Öl. Die Polizei sprach von Selbstmord, dann behaupteten sie, er sei von selbst ausgerutscht und gestürzt. Keiner übernahm die Verantwortung für seinen Tod! Weder die Firma, die ihn eingestellt hatte, Eleman, noch das Werk, in dem er arbeiten sollte, Thyssenkrupp. Sie alle behaupteten, sie hätten keine Schuld!

Seit 15 Monaten warten wir nun schon auf das Ergebnis der Ermittlungen; warten darauf zu erfahren, wer für den Tod meines Sohnes verantwortlich ist. Wer das Leben meines erst 26 Jahre alten Jungen genommen hat. 15 Monate, in denen Thyssenkrupp es nicht für nötig gehalten hat, mit uns Kontakt aufzunehmen. 15 Monate, in denen sie so taten, als gäbe es uns nicht. 15 Monate, in denen sie sich weigerten, die Verantwortung für den Tod von Refat zu übernehmen. 15 Monate, in denen wir zwei Waisenkinder, die Kinder von Refat, ohne jedes Einkommen großgezogen haben.

Meine Familie und ich sind vor 10 Jahren nach Deutschland gekommen, weil wir ein besseres und anständiges Leben führen wollten, ein Leben ohne Diskriminierung und Armut. Refat arbeitete von klein auf, gründete eine Familie, träumte von einem eigenen Haus, wollte seinen Kindern ein gutes Leben bieten, seinen ältesten Sohn, der schwer krank ist, behandeln lassen. Stattdessen fand er den Tod.

Die polizeiliche Ermittlungen haben ergeben, dass das Becken, in dem Refat gefunden wurde, nicht gesichert war. Laut dem Bericht ist die Entfernung eines Sicherheitsgeländers wahrscheinlich der Grund dafür, dass mein Junge in das Becken gefallen ist. Er hat lange um sein Leben gekämpft, niemand hat ihn gehört, niemand hat ihm geholfen. Thyssenkrupps Unachtsamkeit hat Refats Leben ruiniert.

Ich weiß, dass das, was uns passiert ist, auch vielen anderen Familien widerfährt. Ich wurde von denen kontaktiert, die ebenfalls ihre Söhne, ihre Väter, ihre Brüder in Thyssenkrupp verloren haben. Wer wird die Verantwortung für ihren Tod übernehmen? Wann werden sich die Eigentümer von Thyssenkrupp um das Leben und die Gesundheit unserer Kinder kümmern?

Sie verdienen Geld auf ihrem Rücken, lassen sie wie Tiere arbeiten und behandeln sie schlechter als Hunde. Wie ist das möglich im reichsten Land Europas?

Wie ist es möglich, dass das Leben unserer Kinder jeden Tag für den Reichtum eines Unternehmens geopfert wird? Wie ist es möglich, dass dieses riesige und reiche Unternehmen sich nicht um das Leben seiner Arbeiter kümmern kann?

Ich frage die Eigentümer von Thyssenkrupp: Wissen Sie, unter welchen Bedingungen ihre Arbeiter leben? Steigen Sie aus Ihren teuren Autos aus? Gehen sie in den Vierteln, in denen wir leben, auf die Straße? Wissen Sie, dass das Geld, das Sie zahlen, nicht ausreicht, um unsere Kinder zu ernähren? Wissen sie, dass die Bedingungen, die Sie bieten – unsichere Arbeit, keine Schutzausrüstung, keine angemessenen Arbeitsanweisungen, kein garantiertes Einkommen – unsere Kinder ruinieren? Ist das eine anständige Arbeit? Ist das ein anständiges Leben?

Das Leiden ist für mich ewig, ich bin an dem Tag, an dem Refat von uns ging, selber gestorben. Aber solange ich atme, werde ich nicht aufhören, für Gerechtigkeit und die Würde meines Sohnes zu kämpfen, bis diejenigen, die ihn auf dem Gewissen haben, zur Verantwortung gezogen werden.

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