„Grüner Wasserstoff in Brasilien darf nicht durch grünen Strom mit roten Blutstropfen aus Menschenrechtsverletzungen hergestellt werden!“

Rede Christian Russau, Vorstandsmitglied Dachverband der Kritischen Aktionärinnen und Aktionäre, auf der Hauptversammlung von Thyssenkrupp am 2. Februar 2024 in Bochum


ES GILT DAS GESPROCHENE WORT.

Das brasilianische Unternehmen Unigel und die Thyssenkrupp-Tochtergesellschaft Nucera haben eine Vereinbarung zum Bau einer neuen Mega-Anlage für grünen Wasserstoff in Bahia, Brasilien, getroffen. Die Unternehmenssorgfaltspflicht von ThyssenKrupp Nucera endet aber nicht mit der Fertigstellung der Anlage. ThyssenKrupp Nucera muss in seiner Lieferkettenverantwortung sicherstellen, dass für den künftigen Betrieb solch einer Mega-Anlage zur Produktion von Wasserstoff kein grüner Strom mit roten Blutstropfen aus Menschenrechtsverletzungen Verwendung findet!

Denn die Erfahrungen in Brasilien der letzten Jahre beim eigentlich positiv zu bewertenden Ausbau erneuerbarer Energien wie Windkraft und Photovoltaik haben gezeigt, dass diese grünen Projekte – ebenso wie zuvor auch schon bei der Wasserkraft – sehr oft die Ländereien traditioneller Völker und Gemeinschaften oder von Kleinbäuerinnen und Kleinbauern betreffen, die das Land historisch gemeinschaftlich und oft ohne ausgestellte Landtitel nutzen und davon leben. So verschärfen sich teils schwere soziale Konflikte um Land weiter, die das Versprechen des künftig grünen Wasserstoffs sei es für den Inlandsverbrauch oder für den Export nach Deutschland als nachhaltige und sozial gerechte Lösung zutiefst infrage stellen.

ThyssenKrupp baut für Unigel in Camaçari im Bundesstaat Bahia „die erste Produktionsstätte im Industriemaßstab für grünen Wasserstoff in Brasilien“. Rund insgesamt 120 Millionen US-Dollar soll der Aufbau des Produktionsstandorts für grünen Wasserstoff in Brasilien kosten. In der ersten Phase des Wasserstoff-Projekts installiert Unigel drei 20-MW-Standardelektrolyseure von ThyssenKrupp Nucera mit einer Gesamtkapazität von 60 Megawatt (MW). Der produzierte Wasserstoff werde für die Herstellung von grünem Ammoniak verwendet, so ThyssenKrupp. Für die kommenden Jahre plane Unigel „die Vervierfachung seiner Produktion von grünem Wasserstoff. Die Elektrolyseur-Kapazitäten sollen auf über hundert Megawatt ausgebaut werden, so dass etwa 40.000 Tonnen grüner Wasserstoff jährlich hergestellt werden können.“ Erst gegen Ende der Pressemitteilung räumen Sie, ThyssenKrupp, ein, dass „[r]und drei Viertel der in der Elektrolyse des Unigel-Projekts eingesetzten Energie stammen aus erneuerbaren Quellen.“ Es handelt sich also nicht nur um „grünen“ Wasserstoff. Eine Mischquote von 75% grüner Energie mit 25% grauer oder schwarzer Energie reicht also, um das ganze gleich als „grün“ zu erklären?

Aber nicht nur das ist das Problem. Ein genauerer Blick auf die Herkunft des zur Wasserstoffproduktion zukünftig einzusetzenden Stromes wäre ja durchaus hilfreich, um einschätzen zu können, wie „grün“ der Wasserstoff tatsächlich ist – und vor allem, wie sozial verträglich er ist.

Dazu zunächst eine Frage: Geben Sie bitte an, bei wie vielen und welchen Bauprojekten von Wasserstoff, an denen sich Thyssenkrupp und/oder Ihre Tochterunternehmen beteiligen, wird in Zuunft der „grüne“Strom erfolgen aus a) Wasserkraft, b) Windkraft (bitte getrennt nach Onshore und Offshore) und c) Photovoltaikgrossanlagen?

Zurück zum Projekt Nucera und Unigel in in Camaçari im Bundesstaat Bahia. Die Tageszeitung Folha de São Paulo berichtete im Juli des Jahres 2022 dazu: „Der Chemiekonzern gab nicht an, woher die erneuerbare Energie für die Herstellung des Kraftstoffs kommen soll, betonte aber, dass er bereits Vereinbarungen mit Casa dos Ventos zur Erzeugung von Windenergie geschlossen hat.“

Schauen wir uns den Windparkbetreiber Casa dos Ventos doch einmal genauer an. Die Firma Casa dos Ventos beschreibt sich selbst auf seiner Webseite wie folgt: „Casa dos Ventos ist der größte Entwickler von Projekten zur Erzeugung erneuerbarer Energie in Brasilien. Durch Innovation, Technologie und maßgeschneiderte Lösungen unterstützen wir die Verbraucher bei der Energiewende hin zu einer nachhaltigen, kostengünstigen Versorgung.“

Die Nichtregierungsorganisation von Investigativjournalist:innen Repórter Brasil hat Ende 2023 eine umfassende Untersuchung des Vorgehens von Windanlagenprojektierern und -betreibern in Brasilien vorgenommen. Casa dos Ventos ist demnach nach der portugiesischen Firma EDPR, die 316 Verträge für Windparks in Brasilien hat, landesweit auf Platz 2 mit 307.

Casa dos Ventos taucht in der Analyse von Repórter Brasil bei folgendem Fall auf: „Der Analphabet José Bernardo Sobrinho unterzeichnete einen Vertrag mit einer Laufzeit von 37 Jahren, der um weitere 22 Jahre verlängert werden kann, mit einem Windenergieunternehmen, das in seinem Garten einen Turm [mit Windkraftanlage] errichtete, um den Wind einzufangen. Das alles geschah, ohne dass José Sobrinho wusste, dass der Vertrag ihn daran hindern würde, auf seiner Farm Bohnen anzubauen oder gar weitere Häuser für seine Kinder zu bauen, die in Parazinho in der halbtrockenen Region von Rio Grande do Norte aufwachsen.

Casa dos Ventos, das für den ursprünglichen Vertrag mit José Bernardo Sobrinho verantwortlich ist, sagt, dass es sich für die soziale Entwicklung und die Nachhaltigkeit der Gebiete, in denen es tätig ist, einsetzt und „sicherstellt, dass die Verträge die Eigentumsrechte für die Nutzung und den Ertrag respektieren“. Das Unternehmen erklärt, dass die Bedingung, dass das Gebiet dann genutzt werden kann, solange der Betrieb nicht beeinträchtigt wird, für die Sicherheit des Parks und der Eigentümer unerlässlich ist.“

„Wir haben Carioca-Bohnen am Fuße dieses dünneren Turms gepflanzt, und sie haben den Traktor genommen und sind darüber gefahren“, beschwert sich Severina Rodrigues da Silva, die Witwe von José, während sie auf einen der sechs lärmenden Türme in der Nähe ihres Hauses zeigt.“ Der Anbau von Bohnen gefährdet die Sicherheit und den Ertrag der Windkraftanlage?

Repórter Brasil fährt fort: „Der 2014 verstorbene Sobrinho hat den Vertrag an Severina und ihre sechs Kinder weitergegeben, ohne dass diese die Möglichkeit hatten, den Vertrag zu ändern. Severina hat immer noch Schulden bei dem Unternehmen, so dass die Firma ihr jeden Monat die Hälfte der 1.300 R$, die der Familie zustehen, abbucht. Als der Windpark angelegt wurde, bot man ihnen 14.000 R$ an, damit sie von ihrem Lehmhaus in ein Backsteinhaus umziehen konnten. Sie haben bereits 72.000 R$ abbezahlt und haben noch 27 Jahre lang Zahlungen zu leisten. Die Tochter Jucimara da Silva, die im hinteren Teil des Hauses ihrer Mutter wohnt, bedauert, das Land verpachtet zu haben. „Ich habe meinem Vater gesagt, er solle den Vertrag nicht unterschreiben. Wozu hat das gut getan? 650 R$ sind nichts“, sagt sie.“

Verschuldung bei dem Unternehmen, eine monatliche Zahlung von 650 Reais, derzeit umgerechnet 212 Euro, und innerhalb des Sicherheitsradius (den das Unternehmen festlegt) des Windkraftturms darf die Familie nichts mehr für den Eigenbedarf anbauen. Nicht einmal Bohnen. Und die 650 Reais? Severina sagt: „Das reicht allenfalls fürs Mittagsessen“, so Repórter Brasil.

Von ähnlichen Erfahrungen berichtet Misereor: „[B]ei ungeklärten Besitzverhältnissen ist es für Windenergiebetreiberfirmen ein Leichtes, sich die Gebiete zur Errichtung von Windparks durch Landgrabbing anzueignen oder über undurchsichtige Pachtverträge mit der Landbevölkerung ins Geschäft zu kommen. „Erst im Nachhinein stellt sich für die Bevölkerung heraus, dass die geschlossenen Verträge für sie nachteilig sind, da sie beispielsweise eine gleichzeitige Beweidung der Fläche nicht zulassen und der dadurch entstehende Einkommensverlust durch die niedrigen Pachtzahlungen nicht ausgeglichen wird“, beklagt Marina Rocha von der kirchlichen Fachstelle für Landfragen, CPT, in Bahia. „Die Landkonflikte zwischen Kleinbauern und Großgrundbesitzern in der Region schwelen oftmals seit Jahren oder Jahrzenten. Mit den Windenergiebetreiberfirmen kommen nun weitere Akteure dazu, die Interesse an dem Land haben. Damit werden die Konflikte sicherlich nicht geringer“, sorgt sich Marina. […]“ Marina Rocha sagt auch: „Wir kennen kein Unternehmen, das die Gemeinden in einer angemessenen Art und Weise behandelt hat.“

Repórter Brasil hat die Wissenschaftlerin Mariana Traldi, Professorin des Instituto Federal de São Paulo, dazu befragt. In ihrer Doktorarbeit (in deutschsprachiger Übersetzung des Titels) „Die Privatisierung des Windes für die Erzeugung von Windenergie in der brasilianischen Halbtrockenregion“, die sie an der Staatlichen Universität von Campinas (Unicamp) verteidigte, stellte sie fest: „Ich habe von Verträgen mit einer Laufzeit von 49 Jahren gehört, die sich automatisch um weitere 22 Jahre verlängern, ohne dass die Zustimmung des Landbesitzers erforderlich ist. Obwohl sie weiterhin Eigentümer des Landes sind, verlieren die Besitzer die Kontrolle über das Land“, sagt sie, so berichtet Repórter Brasil.

Nun könnten Sie antworten: wir besorgen uns den Strom aus Offshore-Windparks, da leben keine Menschen. Brasilianische NGOs haben mehrere Berichte vorgelegt, die zeigen, wie in Brasilien durch Offshore-Windparks das Meer vor den Küstenstreifen regelrecht privatisiert wird: In Brasilien gilt nämlich die Gesetzesnorm NORMAM-08/DPC die definiert um jedes Off-Shore Windrad einen Mindestabstand von 500 m. Da spätestens dort die nächste Windkraftanlage im Wasser steht, werden Quadratkilometer große Gebiete des Meeres gesperrt – gesperrt für wen? In Brasilien gibt es eine Million Kleinfischer:innen. Diese werden von ihren angestammten Fischgründen buchstäblich abgeschnitten. Kleinfischer in Brasilien, denen der Lebensunterhalt genommen wird, die wütend darüber sind? Da müssten doch bei Ihnen, werte Damen und Herren des Vorstands von Thyssenkrupp alle historisch geschulten Alarmglocken schrillen!

Wer Brasilien kennt, weiß um die Erfahrungen der letzten 40 Jahre in Brasilien mit „erneuerbaren“ Energien und kennt die enorme soziale Schieflage bei der Mehrzahl an Großprojekten: bei Wasserkraftprojekten wie dem Staudamm Belo Monte wurden bis zu 40.000 Menschen zwangsumgesiedelt, die Entschädigungen sind bis heute nicht vollumfänglich geleistet worden und die Biodiversität der Volta Grande do Xingu ist eine Katastrophe und die Energieproduktion liegt wie von den Kritiker:innen prophezeit unter den vollmundigen Ankündigungen von Politik und Wirtschaft. Zuckerrohr – das auch zur Biomassegewinnung und Stromerzeugung oder als Ethanol genutzt wird und auch einer der Kandidaten für die Energiegewinnung zur Wasserstoffproduktion ist, ist einer der Hauptsektoren des Einsatzes gefährlicher Agrargifte und stellt jedes Jahr aufs Neue den Negativrekord bei Sklavenarbeitsähnlicher Zwangsarbeit auf. Bei allen Cash Crops – sei es Zuckerrohr, Dendê-Palmöl, Soja -, die auch zur Energiegewinnung genutzt werden können, gibt es immer wieder Landkonflikte, vor allem werden die historisch genutzten Ländereien der traditionellen Gemeinschaften und Völker, die keine formalen Landtitel haben, aber laut Verfassung eigentlich ein Recht auf ihr traditionell genutztes Land haben, immer wieder von Firmen und Großfarmern illegal in Beschlag genommen – und die Justiz ist langsam, machtlos oder unwillig, den Betroffenen zu ihrem Land zurückzuverhelfen. Gleiches gilt auch für die ganzen neuen Wind- und Solarparks vor allem im brasilianischen Nordosten. Sie sind von ihren angestammten Fischgründen buchstäblich abgeschnitten worden.

Das Bild ist eindeutig: So verschärfen also auch Projekte erneuerbarer Energien bereits bestehende Landkonflikte. Die katholische Landpastoral CPT zählt für die erste Hälfte des Jahres 2023 insgesamt 973 Landkonflikte, was einem Anstieg von 8 Prozent gegenüber dem gleichen Zeitraum im Jahr 2022 entspricht, als 900 Konflikte erfasst wurden. Damit liegt das erste Halbjahr 2023 auf Platz 2 der letzten 10 Jahre und wird nur noch von 2020 übertroffen, als 1.007 Konflikte verzeichnet wurden.

Der Indigenenmissionsrat CIMI errechnete für das Jahr 2022 158 Fälle von Konflikten um Territorialrechte sowie illegales Eindringen und Ressourcenraub in 309 Fällen, die mindestens 218 Indigene Territorien in 25 brasilianischen Bundesstaaten betrafen.

In Bahia, wo ThyssenKrupp mit Unigel die Wasserstoffproduktionslanlage hochzieht, verzeichnete die Landpastoral CPT im Jahr 2022 211 Landkonfikte in Bahia. Der Bundesstaat liegt in der Rangliste der Landkonflikte an dritter Stelle, nur noch hinter Maranhão (225) und Pará (236). Die CPT verzeichnete außerdem einen Anstieg der Zahl der Konflikte in Bahia um 16,42 Prozent, was weit über der nationalen Rate (10,39 Prozent) liegt. Die CPT registriert Konflikte um Land und Wasser, sklavereiähnliche Arbeit sowie Besetzungen und Enteignungen von Land und Territorien.

So zeigen auch die Erfahrungen in Brasilien der letzten Jahre beim eigentlich positiv zu bewertendem Ausbau erneuerbarer Energien wie Windkraft und Photovoltaik, dass diese „grünen“ Projekte – ebenso wie zuvor auch schon bei der Wasserkraft – sehr oft die Ländereien traditioneller Völker und Gemeinschaften oder von Kleinbäuer*innen betreffen, die das Land historisch gemeinschaftlich und oft ohne ausgestellte Landtitel nutzen und davon leben. So verschärfen sich teils schwere soziale Konflikte um Land weiter, die das Versprechen des künftig grünen Wasserstoffs sei es für den Inlandsverbrauch oder für den Export nach Deutschland als nachhaltige und sozial gerechte Lösung zutiefst infrage stellen. ThyssenKrupp muss entsprechend umgehend sicherstellen und transparent beweisen, dass die künftige Energie für das Kooperationsprojekt mit Unigel zur Gewinnung des „grünen“ Wasserstoffs einerseits nicht nur wirklich „grün“ (also den Kriterien von Klimaneutralität, Umwelt- und Biodiversitätsschutz entspricht) ist, sondern auch wirklich aus sozial fairen Projekten kommt. Dazu gehört, dass es Projekte (sei es Wasserkraft, Windkraft, Solarenergie, Stromgewinnung aus nachwachsenden Rohstoffen wie Zuckerrohr, Palmöl etc) sind, die eben nicht nur die wohlfeil propagierte klimaneutrale Wirkung haben, sondern Projekte sind, bei denen nachweislich vor Baubeginn eine freie, vorherige und informierte Konsultation aller betroffenen traditionellen Gemeinschaften der Region durchgeführt wurde und deren explizites Einverständnis dazu eingeholt wurde, so wie es die von Brasilien und Deutschland ratifizierte ILO-Konvention 169 vorschreibt. Und dass es Projekte sind, die Fälle wie die von José Bernardo Sobrinho und seiner Witwe Severina von vorneherin ausschließt und aktiv verhindert. Menschenrechte sind nicht verhandelbar.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

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