Gemeinsame Stellungnahme zum Gesetzentwurf für virtuelle Hauptversammlungen

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Hiermit nehmen wir zum Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz vom 09. Februar 2022 für ein Gesetz zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften Stellung. Bei folgenden Punkten sehen wir dringenden Änderungs- und/oder Ergänzungsbedarf:

  1. Generelles zum Referentenentwurf
  2. Hybride Hauptversammlungen: Zukunftsmodell bleibt ohne sicheren Rechtsrahmen
  3. Rede- und Fragerecht müssen für alle Aktionär*innen garantiert sein
  4. Künstliche Trennung von Rede- und Fragerecht schafft Mündlichkeitsprinzip ab
  5. Fragerecht: Einschränkungen sogar gegenüber den aktuellen Regeln
  6. Rederecht: Einschränkende und unklare Kriterien
  7. „Vorfeld wird zum Hauptfeld“: Drohende Entwertung der Hauptversammlung
  8. Gegenanträge müssen direkt gestellt und begründet werden können
  9. Kürzere Gültigkeitsdauer der Entscheidung über das Format der Hauptversammlung
  10. Eine zeitnahe Evaluierung des Gesetzes ist dringend nötig
  11. Erweiterung der Antragsrechte zu Fragen der Geschäftsführung
  12. Öffentliche Online-Übertragung auch auf Englisch

1. Generelles zum Referentenentwurf

Wir begrüßen, dass das Bundesministerium der Justiz anerkennt, dass durch die aktuell noch gültigen Sonderregelungen für virtuelle Hauptversammlungen Aktionärsrechte eingeschränkt werden, insbesondere durch die abgeschafften Rede- und Nachfragerechte.

Wir begrüßen daher auch, dass das Ministerium dringenden Handlungsbedarf sieht und einen Gesetzesentwurf vorgelegt hat, um die uneingeschränkte Wahrung von Aktionärsrechten auch bei virtuellen Formaten zu gewährleisten.

Dem eigenen Anspruch, dass Aktionärsrechte „im gleichen oder zumindest vergleichbaren Umfang wie in der Präsenzversammlung“ ausgeübt werden sollen, wird der vorliegende Referentenentwurf aber an zentralen Stellen nicht gerecht.

Insbesondere für Kleinaktionär:innen und kleinere institutionelle Investor:innen bedeutet der vorliegende Entwurf erhebliche Einschränkungen im Vergleich zu der bisherigen Praxis. Aus diesen Gründen stellt die im Gesetzentwurf beschriebene virtuelle Hauptversammlung für uns keine akzeptable, gleichwertige Alternative zur Präsenz-Hauptversammlung dar.

Wir sind uns bewusst, dass die fortschreitende Digitalisierung auch Hauptversammlungen zukünftig verändern kann. Dennoch halten wir die Präsenz-Hauptversammlung, ergänzt um digitale Partizipationsmöglichkeiten (hybride Hauptversammlung), für das optimale Format, um Aktionärsrechte uneingeschränkt wahrnehmen zu können. Sollte die Hauptversammlung über die Einführung einer rein virtuellen Form entscheiden, ist die Ausgestaltung der Aktionärsrechte maßgeblich zu berücksichtigen. Dabei sollte ein rein virtuelles Format die Ausnahme bilden und nur erwogen werden, wenn es aus wesentlichen Gründen, zum Beispiel einer Bedrohungslage, erforderlich ist.

Die dauerhafte gesetzliche Regelung virtueller Hauptversammlungen dürfte große Auswirkungen auf die Aktienkultur haben. Der Sustainable Finance-Beirat hat in seinem Abschlussbericht 2021 festgestellt, dass private und staatliche Investor:innen in Deutschland ihre Aktionärsrechte und Einflussmöglichkeiten für nachhaltigeres Wirtschaften zu wenig nutzen. Der Beirat empfiehlt daher der Bundesregierung, dass institutionelle Investor:innen dabei unterstützt werden sollten, ihrer Verantwortung im Hinblick auf eine nachhaltige Wertschöpfung nachzukommen. In ihrem Koalitionsvertrag hat die Bundesregierung vereinbart, auf Basis der Empfehlungen des Sustainable Finance Beirats eine entsprechende „Sustainable Finance Strategie mit internationaler Reichweite“ zu implementieren.

Aktionärsrechte und eine aktive Aktionärskultur sollten daher gestärkt werden. Dafür ist die Hauptversammlung zentral. Dies sollte bei deren Ausgestaltungsmöglichkeiten sowie den Vor- und Nachteilen verschiedener Formate bedacht und evaluiert werden.

Leider sieht der Entwurf weiterhin in Bezug auf den direkten Austausch zwischen Aktionariat und Vorständen besondere und sogar neue Einschränkungen vor, die nicht durch technische oder andere Einschränkungen des digitalen Formats gerechtfertigt werden können. Insbesondere die künstliche Trennung von Rede- und Fragerecht würde das Mündlichkeitsprinzip abschaffen, den direkten Dialog verhindern und so die Bedeutung der Hauptversammlung stark entwerten.

Der direkte Dialog über Fragen und Antworten sorgt dafür, dass die Hauptversammlung ein Ort der Meinungsbildung und des Argumentaustausches zwischen allen interessierten Aktionär:innen, ihren Vertreter:innen sowie Vorständen und Aufsichtsräten ist. Dies ist unverzichtbar dafür, dass die Abstimmungen zu einzelnen Tagesordnungspunkten auch von einem umfassend informierten Aktionariat durchgeführt werden können. Ohne den direkten Austausch in einer Generaldebatte drohen virtuelle Hauptversammlungen zu einseitigen Werbeveranstaltungen der Aktiengesellschaften zu werden.

In der Begründung des Gesetzentwurfes wird auf die bisherigen Erfahrungen mit virtuellen Hauptversammlungen und in diesem Zusammenhang auf gestiegene Präsenzraten hingewiesen. Während der Pandemie stand den Aktionär:innen jedoch kein Wahlrecht hinsichtlich des abzuhaltenden Formates der Hauptversammlung offen. Daher lassen die bisherigen Erfahrungen keine Rückschlüsse darauf zu, ob die Aktionär:innen tatsächlich eine virtuelle gegenüber einer Hauptversammlung in Präsenz bevorzugen.

Bevor wir unsere Kritikpunkte im Einzelnen darlegen, möchten wir unser Unverständnis darüber äußern, dass der Referentenentwurf explizit keine Regeln für ein erweitertes Format hybrider Hauptversammlungen vorsieht.

2. Hybride Hauptversammlungen: Zukunftsmodell bleibt ohne sicheren Rechtsrahmen

Wir würden es begrüßen, wenn der Gesetzgeber auch für Präsenz-Hauptversammlungen die rechtssichere Möglichkeit für Redebeiträge mit Fragen auch per Videozuschaltung über das Internet schaffen würde. Selbstverständlich müssen für das Rede- und Fragerecht die gleichen Bedingungen gelten, unabhängig davon, ob diese virtuell oder in physischer Präsenz vor Ort wahrgenommen werden.

So ließen sich einige Vorteile der beiden bisher erprobten Formate – einfache Partizipationsmöglichkeiten und Reduzierung von Reisekosten – verbinden. Die Aktionär:innen könnten selbst entscheiden, ob sie virtuell oder in Präsenz an der Hauptversammlung teilnehmen wollen, ohne dabei eine Einschränkung ihrer Rechte in Kauf nehmen zu müssen.

Die im Entwurf genannten Argumente gegen ein solches erweitertes Hybrid-Modell – hoher Aufwand, hohe Kosten, Gefahr möglicher Informationsasymmetrien – halten einer kritischen Überprüfung nicht stand. Schon vor der Corona-Pandemie sind hybride Veranstaltungen durchgeführt worden, bei denen virtueller und physischer Raum den gleichen Informationsstand haben. Es ist daher nach unserem Verständnis primär eine Frage des politischen Willens, Hybrid-Modelle effektiv und effizient umzusetzen.

Der spezielle Mehraufwand eines Hybrid-Modells ist durch die so verbesserten Partizipationsmöglichkeiten mehr als gerechtfertigt. Wir können daher nicht nachvollziehen, warum das Ministerium davon ausgeht, dass die Aktionär:innen kein Interesse an einem vollständig zweigleisigem Modell haben.

Die Umsetzung eines Hybrid-Modells wäre nicht sonderlich kompliziert, würden Rede- und Fragerecht nicht künstlich getrennt. Statt das Fragerecht in die Zeit vor der Hauptversammlung zu verschieben, könnten Redebeiträge mit Fragen einfach am Tag der Hauptversammlung sowohl vor Ort als auch virtuell angemeldet werden. Die Redebeiträge mit Fragen können dann sowohl per direkter Videozuschaltung oder vor Ort gehalten werden. Schon vor der Pandemie gab es viele positive Erfahrungen mit Großveranstaltungen, bei denen einzelne Beiträge per direkter Videozuschaltung und Austauschmöglichkeit mit dem vor Ort anwesenden Publikum stattgefunden haben.

Von solchen Erweiterungen und Verbesserungen der Präsenz-Hauptversammlung sieht der Gesetzentwurf leider ab. Damit wird die in der Gesetzesbegründung beschworene „größtmögliche Flexibilität“ für die Gestaltung zukünftiger Hauptversammlungen ausgerechnet in diesem zentralen Punkt nicht ermöglicht.

Im Folgenden erläutern wir, warum zentrale Regeln des Gesetzentwurfs für virtuelle Hauptversammlungen keine gleichwertige Alternative zur Präsenz-Hauptversammlung schaffen.

3. Rede- und Fragerecht müssen für alle Aktionär:innen garantiert sein

Zentrales Element einer jeden Hauptversammlung ist, dass einmal im Jahr interessierte Aktionär:innen in eine Debatte mit Vorstand und Aufsichtsrat eintreten können.

Redebeiträge und die Möglichkeit zu (Nach-)Fragen aller interessierten Aktionär:innen stellen somit elementare Aktionärsrechte dar. Die im Referentenentwurf geplante Beschränkung der Anzahl von Redebeiträgen und Fragen stellt eine nicht hinnehmbare Beschränkung grundlegender, existierender Aktionär:innenrechte dar.

Mit den geplanten Änderungen droht eine aktionärsunfreundliche Willkür seitens der Verwaltungen zu ihren eigenen Gunsten. Die Verwaltung würde allein darüber entscheiden, welche Anzahl an Fragen und Redebeiträgen als „angemessen“ gelten soll.

Gegenüber Präsenz-Hauptversammlungen stellt der Vorschlag, dass die Verwaltung bereits im Voraus die Anzahl und die Länge von Redebeiträgen nach eigenem Ermessen beschränken kann, eine deutliche Verschlechterung dar, Aktionärsreche wahrnehmen zu können. In Präsenz-Hauptversammlungen kann zwar die Redezeit beschränkt und die Redner:innenliste geschlossen werden – jedoch erst dann, wenn sich im Verlauf der Versammlung abzeichnet, dass diese viel länger als üblich dauern würde. Dies ist definitiv nicht die Regel und auch nicht für virtuelle Hauptversammlungen zu erwarten. Vielmehr ist zu befürchten, dass komplexe Themen und Fragestellungen nicht mehr hinreichend dargestellt werden können. Insbesondere Kritik und relevante, aber nicht allen bekannte Probleme könnten so sehr leicht von der Verwaltung als irrelevant oder unwichtig dargestellt werden.

4. Künstliche Trennung von Rede- und Fragerecht schafft Mündlichkeitsprinzip ab

Im Vergleich zu den bisherigen Regeln und der Praxis von Präsenz-Hauptversammlungen stellen die für die virtuelle Hauptversammlung vorgeschlagenen Regelungen für das Rede- und Fragerecht von Aktionär:innen deutliche Verschlechterungen dar.

Die im Gesetzesentwurf angestrebte Trennung von Rede- und Fragerecht geht auf Kosten einer lebendigen Debattenkultur. Die etablierte Praxis ist, dass bei den Reden stets Fragen gestellt werden, auf die Vorstand und Aufsichtsrat auch direkt während der Hauptversammlung antworten. Redebeitrag und Fragen bilden insofern eine logische Einheit, damit auch der Kontext der Fragen von Dritten verstanden werden kann.

Die jetzt angestrebte künstliche Trennung von Reden und Fragen birgt die Gefahr, dass für Teile der Aktionär:innen gar nicht nachvollziehbar ist, warum bestimmte Fragen gestellt werden. Damit komplexe Fragen zufriedenstellend beantwortet werden, ist es unerlässlich, dass Fragesteller:innen diese in den entsprechenden Kontext einordnen können. Ansonsten droht die Qualität der Antworten stark abzuflachen, wie wir in den letzten beiden Jahren rein virtueller Hauptversammlungen teilweise beobachten mussten.

Direktes Fragen und direktes Antworten stellen ein gegenseitiges Zuhören sicher und sind ein fundamentaler Unterschied zu bloßen Stellungnahmen. Der vorliegende Entwurf behindert einen solchen direkten Austausch unnötigerweise.

In der Gesetzesbegründung wird behauptet, in den bisherigen virtuellen Hauptversammlungen habe sich die Antwortqualität gesteigert. Diese Erfahrung haben Shareholders for Change und der Dachverband der Kritischen Aktionärinnen und Aktionäre nicht gemacht. Im Gegenteil: Die Antwortqualität ist zum Teil deutlich schlechter geworden.

In vielen virtuellen Hauptversammlungen werden Antworten sehr grob, intransparent und willkürlich gebündelt. So ist zum Teil noch nicht einmal nachvollziehbar, ob die Verwaltung etliche Fragen für beantwortet hält oder einfach ignoriert. Solange es keine wissenschaftlichen, empirisch belastbaren Daten sowie transparente Kriterien zur Messung der Antwortqualität gibt, kann eine angebliche Steigerung der Antwortqualität nicht glaubhaft als Argument für eine künstliche Trennung von Rede- und Fragerecht herangezogen werden.

5. Fragerecht: Einschränkungen sogar gegenüber den aktuellen Regeln

Wird die Anzahl der einzureichenden Fragen willkürlich von der Verwaltung beschränkt, so kann damit auch das Informationsrecht beschnitten werden.

Der Entwurf sieht vor, dass Fragen spätestens vier Tage im Voraus eingereicht werden müssen. Somit gibt es keine Möglichkeit mehr, auch auf aktuelle und für die Aktiengesellschaft höchst relevante Entwicklungen zu reagieren. Die vorgeschlagene Nachfragemöglichkeit ist auf die Themen der bereits eingereichten Fragen beschränkt und bietet daher keine Abhilfe.

Nachfragen in der Hauptversammlung müssen auch bezüglich der Antworten, die andere Aktionär:innen auf ihre Fragen erhalten haben, möglich sein. Dies ist ein zentraler Bestandteil der Aussprache und Generaldebatte. Leider ist dies im Gesetzentwurf nicht vorgesehen.

6. Rederecht: Einschränkende und unklare Kriterien

Es ist nicht nachvollziehbar, warum in direkten Redebeiträgen keine Fragen – noch nicht einmal Nachfragen – gestellt werden sollen. Es gibt keine technischen Hürden, die das unmittelbare Fragen und Antworten auf virtuellen Veranstaltungen unmöglich machen. Die während der Pandemie gemachten Erfahrungen mit virtuellen Diskussionsveranstaltungen und direkten Interaktionsmöglichkeiten sollten hier für sich sprechen.

Die Formulierung „Den Aktionären ist in der Versammlung eine Redemöglichkeit im Wege der Videokommunikation zu gewähren.“ (§ 130a(4,1)) lässt offen, ob es sich dabei um direkte Zuschaltungen per Video oder um vorab aufgenommene Videostatements handelt. Erst in der Begründung ist davon die Rede, dass dazu eine Zwei-Wege-Direktverbindung erforderlich sei. Dies sollte der Gesetzgeber bereits im Gesetzestext deutlich machen, um Missverständnisse zu vermeiden.

Die „virtuelle Teilnahme“ mit Videobeiträgen kann durchaus eine Barriere darstellen.

Darüber hinaus knüpft § 130a Abs. 5 die Redemöglichkeit an die Verpflichtung, bis spätestens vier Tage vor der Versammlung einen Redebeitrag anzumelden und wird gemäß Abs. 6 unter den Vorbehalt gestellt, am Tage vor der Hauptversammlung die Funktionsfähigkeit der Videokommunikation zwischen Aktionär:innen und Gesellschaft zu überprüfen und bereits zugelassene Redebeiträge zurückzuweisen, sofern die Funktionsfähigkeit nicht sichergestellt ist. Hiermit wird das Risiko technischer Störungen bereits vor der virtuellen Hauptversammlung einseitig den Aktionär:innen auferlegt und zudem deren Teilnahme an der virtuellen Hauptversammlung in das Ermessen der Gesellschaft gestellt.

Diese Risikoverteilung ist insbesondere im Hinblick auf die ebenfalls neu eingefügte Regelung des § 243 Abs. 3 bedenklich, die ihrerseits das Anfechtungsrecht wegen technischer Störungen nur eröffnet, wenn es Aktionär:innen gelingt, der Gesellschaft grobe Fahrlässigkeit oder Vorsatz nach- und zu beweisen. Damit verkehrt sich das bisherige gesetzliche Leitbild, wonach bei Verweigerung der Ausübung versammlungsgebundener Aktionärsrechte durch die Gesellschaft die Anfechtbarkeit der hiervon betroffenen Beschlüsse die einschlägige Rechtsfolge war.

7. „Vorfeld wird zum Hauptfeld“: Drohende Entwertung der Hauptversammlung

Eine zunehmende Verlagerung der Informations- und Entscheidungsprozesse der Hauptversammlung in das Versammlungsvorfeld stellt sich für Kleinaktionär:innen wie auch viele kleinere Investor:innen kaum so dar. Im Gegenteil: Die Hauptversammlung bleibt die einzige Möglichkeit für sie, ihre Rede-, Frage- und Auskunftsrechte wahrzunehmen. Gegenanträge können auch nur dort mündlich gestellt und begründet werden, um berücksichtigt zu werden.

Die Antworten von Vorstand und Aufsichtsrat auf die zuvor eingereichten Fragen waren auch in den virtuellen Hauptversammlungen der letzten zwei Jahre für Kleinaktionär:innen und andere Investierende eine wichtige Informationsquelle, um dann über die einzelnen Tagesordnungspunkte abzustimmen. Viele Informationen zu zentralen Themen wie Nachhaltigkeit, Klimaschutz und menschenrechtliche Sorgfalt erfolgen nicht aufgrund des Kapitalmarktrechts, sondern werden nur auf der Hauptversammlung gegeben.

Die Gesetzesbegründung zur Einfügung des neuen § 118a weist ausdrücklich darauf hin, dass die virtuelle Hauptversammlung keine „Versammlung zweiter Klasse“ darstellen solle. Mit dem gleichen Anspruch darf sie ihrerseits keine Aktionär:innen „zweiter Klasse“ schaffen. Wenn eingeschränkte Aktionärsrechte in der virtuellen Hauptversammlung durch gesteigerte Beteiligungsmöglichkeiten im Vorfeld kompensiert werden sollen, benachteiligt dies jene Aktionär:innen, welche die neuen Möglichkeiten im Vorfeld nicht nutzen können.

Investor:innengespräche oder andere Veranstaltungen der Aktiengesellschaften im Vorfeld der Hauptversammlung sind nicht allen Aktionär*innen gleichermaßen zugänglich. Die Chancen, sich auf diesem Wege einzubringen, sind damit asymmetrisch verteilt.

Die Möglichkeit, Kritik und andere Perspektiven auf der Hauptversammlung einzubringen und vor der gesamten Aktionärsöffentlichkeit diskutieren zu können, ist vorteilhaft für alle Aktionär:innen. Sie eröffnet einen Zugang zu umfassenderen Informationen und ermöglicht damit allen eine bessere Einschätzung des Unternehmens und der zur Abstimmung stehenden Tagungsordnungspunkte.

Es ist von zentraler Bedeutung, dass die Hauptversammlung das „Hauptfeld“ bleibt. Nur so kann sichergestellt werden, dass zu einem klar definierten Zeitpunkt alle für das Abstimmungsverhalten relevanten Diskussionspunkte und Argumente ausgetauscht werden. Und nur so können Informationsasymmetrien zwischen Großaktionär:innen und Kleinaktionär:innen sowie kleineren institutionellen Investor:innen effektiv vermieden werden.

8. Gegenanträge müssen direkt gestellt und begründet werden können

Diejenigen Aktionär:innen, die ordnungs- und fristgemäß Anträge, Wahlvorschläge oder Gegenanträge eingereicht haben, sollten diese auch in Präsenz oder per direktem Videobeitrag in der Hauptversammlung stellen und begründen können.

Die im Referentenentwurf vorgesehene „Fiktion der Antragstellung im Vorfeld“ ist eine deutliche Verschlechterung im Vergleich zur bisherigen Praxis in der Präsenz-Hauptversammlung. Wir haben bereits erläutert, wie diese Verlagerung in das „Vorfeld“ zu Informationsasymmetrien beim Aktionariat führt. Gerade kritische Stimmen sollten auch in Zukunft direkt ihre Argumente gegen die Beschlussfassung einzelner Tagesordnungspunkte vortragen können, um andere Aktionär:innen informieren zu können.

9. Kürzere Gültigkeitsdauer der Entscheidung über das Format der Hauptversammlung

Der Referentenentwurf sieht für die nötigen Satzungsänderungen eine Gültigkeitsdauer von bis zu fünf Jahren vor. Diese lange Gültigkeitsdauer lehnen wir strikt ab.

Möchten Aktionär:innen oder die Verwaltung per Satzungsänderung der Hauptversammlung vorschlagen, die Versammlung in hybrider Form oder rein virtuell durchzuführen, dann sollte dies auf die dann folgende Hauptversammlung beschränkt sein. Dies stärkt die Rechte der Aktionär:innen und trägt auch sich rasch ändernden Umständen, wie in Pandemiezeiten gesehen, Rechnung.

Es ist schon jetzt absehbar, dass es einen großen Diskussionsbedarf über die Einführung und Umsetzung rein virtueller Hauptversammlungen gibt. Sollte es durch die Corona-Pandemie nötig sein, dass auch nach August 2022 Hauptversammlungen rein virtuell stattfinden, so sollte auf diesen rein virtuellen Hauptversammlungen alle Aktionärsrechte auch vollumfänglich gewahrt sein. Eine solch umfassende Änderung, welche elementare Aktionärsrechte betrifft, sollte nicht schon unter den Bedingungen stattfinden, über die erst noch entschieden werden muss.

Gerade hier zeigt sich: Es braucht eine Debatte, in der alle Beteiligten zu einem spezifischen Zeitpunkt direkt ihre Argumente austauschen können, um dann zu einer informierten Entscheidung kommen zu können.

10. Eine zeitnahe Evaluierung des Gesetzes ist dringend nötig

Es ist für uns nicht nachvollziehbar, weshalb der Referentenentwurf bei derart tiefgreifenden Änderungen des Aktienrechts keine Evaluierung der vorgeschlagenen Regelungen vorsieht. Zwar haben virtuelle Hauptversammlungen bisher ohne größere technische Probleme stattgefunden, jedoch nicht unter den nun vorgeschlagenen Änderungen. Bei einer Evaluierung sollten nicht nur technische Probleme, sondern vor allem auch konzeptionelle Probleme identifiziert werden. In dieser Stellungnahme haben wir bereits viele Probleme und Unklarheiten bei virtuellen Hauptversammlungen benannt, die zu langwierigen Rechtsstreitigkeiten führen könnten.

Eine zeitnahe Evaluierung der gesetzlichen Regeln für virtuelle Hauptversammlungen ist daher dringend nötig, um Fehlentwicklungen entgegenzutreten und Erfahrungen für eine bessere Praxis nutzen zu können.

11. Erweiterung der Antragsrechte zu Fragen der Geschäftsführung

Bisher kann die Hauptversammlung nur Beschlüsse zu einigen wenigen Punkten fassen, die in § 119 des Aktienrechts aufgelistet sind, etwa die Entlastung der Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats oder die Verwendung des Bilanzgewinns. Über Fragen der Geschäftsführung kann die Hauptversammlung nur entscheiden, wenn der Vorstand es verlangt.

Um die Relevanz der Hauptversammlung als zentrales und unabhängiges Organ und sowohl die Verantwortung als auch die Mitspracherechte der Aktionär:innen zu stärken, sollte der Hauptversammlung das Recht zugestanden werden, über zentrale strategische Ausrichtungen zu entscheiden und dem Vorstand entsprechend bindende Weisungen zu erteilen. Entscheidungen wären mit einfacher Mehrheit bindend.

Dazu sollte es möglich sein, entsprechende Anträge zu Fragen der Geschäftsführung oder strategischen Ausrichtung der Aktiengesellschaft als Gegenstände auf die Tagesordnung zu setzen. Dies wird beispielsweise in Großbritannien in Form von shareholder resolutions mit zum Teil großem Einsatz seitens der Aktionär:innen praktiziert.

Diese Ergänzungsverlangen zur Tagesordnung der Hauptversammlung wären bei ordnungs- und fristgemäßer Einreichung entsprechend bekannt zu machen. Jedem neuen Gegenstand sollte eine Begründung oder Beschlussvorlage beiliegen.

12. Öffentliche Online-Übertragung auch auf Englisch

Ob virtuell oder in Präsenz: Um eine einfache und barrierearme Teilnahme an Hauptversammlungen sicherzustellen, sollten Aktiengesellschaften ihre Hauptversammlungen vollständig und öffentlich, also ohne Zugangsbeschränkungen, auf ihrer Internetseite übertragen. Dort sollten sie auch im Nachgang vollständig abrufbar sein.  

Angesichts der Internationalisierung der Aktionärsstrukturen sollte eine aktive Teilnahme auch in englischer Sprache möglich sein. Die Aktiengesellschaften sollten dazu die entsprechende simultane Übersetzung ins Englische bzw. Deutsche sicherstellen.

Abschließend fordern wird die Bundesregierung auf, ihrer im Koalitionsvertrag vereinbarten Absichtserklärung gerecht zu werden, die Aktionärsrechte uneingeschränkt auch auf virtuellen Hauptversammlungen zu wahren. Dabei muss der Fokus auf den Partizipationsrechten von Aktionär:innen und ihrer Vertreter:innen liegen.


Informationen zu den Verfassern dieser Stellungnahme

CRIC (Corporate Responsibility Interface Center) ist ein gemeinnütziger Verein zur Förderung von Ethik und Nachhaltigkeit bei der Geldanlage und versteht sich gleichermaßen als Informationsplattform und Kompetenzzentrum. Ziel der Aktivitäten von CRIC ist es, ökologischen, sozialen und kulturellen Aspekten in Unternehmen und der Wirtschaft mehr Gewicht zu verleihen. Mit knapp 130 Mitgliedern vor allem in Deutschland, Österreich und der Schweiz ist CRIC die größte Investorengemeinschaft zur ethisch-nachhaltigen Geldanlage im deutschsprachigen Raum. Die Schwerpunkte der Arbeit liegen in der Bewusstseinsbildung, dem Dialog mit der Wirtschaft (engl. Engagement) und der wissenschaftlichen Begleitforschung. CRIC wurde im Jahr 2000 gegründet. Weitere Informationen unter www.cric-online.org, auf Twitter und LinkedIn.

Shareholders for Change (SfC), die 2017 von europäischen institutionellen Investoren gegründet wurden, betreiben gemeinsam das sogenannte „Engagement“ mit dem Ziel, Unternehmen, Staaten und andere Investitionsobjekte zu motivieren, Nachhaltigkeitsaspekte verstärkt zu berücksichtigen. Die SfC haben aktuell dreizehn Mitglieder aus sieben europäischen Ländern, darunter auch Deutschland, und vertreten zusammen etwa 30 Milliarden Euro verwaltetes Vermögen. Die Engagement-Aktivitäten werden hauptsächlich mit europäischen Unternehmen über Aktienstimmrechtsausübungen und über Dialogformate wie Briefe, Telefonkonferenzen oder persönliche Meetings durchgeführt. Inhaltliche Schwerpunkte der SfC-Engagement-Aktivitäten bilden die drei Themen: Arbeits- und Menschenrechten, aggressive Steuervermeidung und Steuergerechtigkeit sowie CO2-Emissionen und Klimawandel. Mehr Informationen erhalten Sie unter www.shareholdersforchange.eu.

Der Dachverband der Kritischen Aktionärinnen und Aktionäre ist eine Aktionärsvereinigung Nichtregierungsorganisation, die sich für Umwelt- und Klimaschutz, menschenrechtliche Sorgfalt sowie Abrüstung bei deutschen Aktiengesellschaften einsetzt. Der Dachverband vertritt 8.000 Kleinaktionär:innen sowie 27 Menschenrechts- und Umweltorganisationen der Zivilgesellschaft und nimmt aktiv an Hauptversammlungen teil, um deren Interessen, Kritikpunkte und Fragen zu artikulieren. Weitere Informationen unter www.kritischeaktionaere.de.

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6 Pings

  1. […] „So sehr wir das Compliance-System der Deutschen Telekom kritisieren, so sehr loben wir, dass der rosa Riese nach zwei Jahren virtueller Hauptversammlungen wieder zu Präsenz-Versammlungen zurückkehrt“, sagt Dufner. „Auf fast allen Online-Versammlungen der DAX-Konzerne hatten Aktionärinnen und Aktionäre kein Rederecht und konnten nicht nachfragen.“  Der Dachverband hatte im Februar zusammen mit Shareholders for Change (SfC) und CRIC (Verein zur Förderung von Ethik und Nachhaltigkeit bei der Geldanlage) zum Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz für ein Gesetz zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften kritisch Stellung genommen (siehe https://www.kritischeaktionaere.de/virtuelle-hauptversammlungen/gemeinsame-stellungnahme-zum-gesetze…). […]

  2. […] Wie viele andere Aktionärsvereinigungen hat der Dachverband im Februar zusammen mit Shareholders for Change (SfC) und CRIC (Verein zur Förderung von Ethik und Nachhaltigkeit bei der Geldanlage) kritisch zu dem Referentenentwurf aus dem Hause von FDP-Minister Buschmann Stellung genommen Ich empfehle Ihnen die Lektüre auf der Webseite des Dachverbands (siehe https://www.kritischeaktionaere.de/virtuelle-hauptversammlungen/gemeinsame-stellungnahme-zum-gesetze…). […]

  3. […] institutionelle Investoren Engagement-Prozesse zu Nachhaltigkeitsaspekten führen, haben wir diese umfangreiche Stellungnahme beim Bundesjustizministerium eingereicht und dies mit einer zusammenfassenden Pressemitteilung […]

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