2023 fanden endlich wieder Hauptversammlungen in Präsenz statt, die meisten Großkonzerne blieben jedoch beim virtuellen Format. Sie und wir mussten mit den neuen Regeln und Bedingungen umgehen. Ein Rückblick, der die Probleme virtueller Hauptversammlungen und unsere Herausforderungen für 2024 deutlich macht.
Nach drei Jahren Corona-Pandemie mit rein virtuellen Hauptversammlungen ohne Rederecht und direkte Interventionsmöglichkeiten standen 2023 nun wieder Hauptversammlungen in Präsenz an. Doch die Bundesregierung hatte den Aktiengesellschaften nun die rechtssichere Option gegeben, auch weiterhin die Versammlungen rein virtuell, also ohne physische Präsenz der Aktionär*innen und ihrer Vertreter*innen wie uns, durchzuführen. Zwar unter besseren, also aktionärsfreundlicheren Bedingungen als zuvor, mit garantiertem Live-Rede- und Fragerecht im virtuellen Raum, doch weiterhin ohne das gerade für unsere Kritikpunkte und Protest so wichtige Präsenz-Publikum der Kleinaktionär*innen. Für die Konzernverantwortlichen ist das virtuelle Format genau aus diesen Gründen vorteilhaft: Sie können kritische Stimmen und Protest auf Distanz halten.
Mehr virtuelle als Präsenz-Hauptversammlungen
Unsere Befürchtung, dass zumindest die Großkonzerne auch 2023 rein virtuelle Hauptversammlungen durchführen werden, sollte sich bewahrheiten: Wir haben an 34 virtuellen und 19 Präsenz-Hauptversammlungen teilgenommen, hier geht es zur Übersicht zu unseren Themen, Kritikpunkten und Veröffentlichungen.
Da die Gesetzesänderung für virtuelle Hauptversammlung vorsah, dass die Hauptversammlung erst noch darüber entscheiden soll, ob die Möglichkeit rein virtueller Hauptversammlung in die Satzung aufgenommen werden soll, erschien ein entsprechender Vorschlag zu Satzungsänderungen auf allen Tagesordnungen. Kein Konzernvorstand, auch wenn er gegenüber dem virtuellen Format eher kritisch eingestellt sein mag, wollte sich zumindest die Option für die Zukunft nehmen lassen.
Harsche Kritik von allen Seiten – ohne Effekt
Wie kam es aber dazu, dass doch schon so viele virtuelle Hauptversammlungen stattgefunden haben, also unter den Bedingungen, über die ja erst abgestimmt werden sollte? Der Gesetzgeber hatte dazu im Sinne der Konzerne vorgesorgt und eine Ausnahme hinzugefügt, dass dieses Jahr die Verwaltung (Vorstand und Aufsichtsrat) sich auch ohne vorherige Ermächtigung durch die Hauptversammlung für das virtuelle Format entscheiden konnte. Diesen Punkt haben wir auch in unseren Gegenanträgen und Begründungen kritisiert, warum wir rein virtuelle Hauptversammlungen ablehnen: „Allgemein ist es kein guter Umgang mit Aktionär*innen, bereits eine Abstimmung exakt unter jenen Bedingungen durchzuführen, um deren Zustimmung Vorstand und Aufsichtsrat ja erst bitten.“ Stattdessen forderten wir – erst schriftlich per Gegenantrag, dann mündlich (per Video-Redebeitrag) in der Hauptversammlung –, dass mindestens auch die Option der Hybrid-Hauptversammlung zur Abstimmung gebracht werden müsste, welches die Vorteile einer Präsenz-Hauptversammlung mit jenen einer rein virtuellen Veranstaltung vereint.
Mit unserer Kritik am virtuellen Format waren wir auf den Hauptversammlungen nicht allein. Auch die anderen Aktionärsvereinigungen und Fondsmanager kritisierten so einig wie selten das „Vorstandsfernsehen“, mit denen Aktionär*innen nun abgespeist würden. Doch so einig und vernehmbar die Kritik in den Redebeiträgen, so eindeutig fiel das Abstimmungsergebnis am Ende in die andere Richtung aus. Da gewichtigere Stimmrechtsberatungen (stellvertretend für andere sei hier der weltgrößte Stimmrechtsberater Institutional Shareholder Services, ISS genannt), an denen sich viele Fonds orientieren, ihre kritische Einstellung aufgrund der neuen, gesetzlichen Interaktionsmöglichkeiten revidiert hatten, stimmten die allermeisten Hauptversammlungen mit weit über 90 Prozent für die Ermächtigung der Vorstände, in Zukunft selbst über das Hauptversammlungsformat entscheiden zu dürfen.
Diesen bemerkenswerten Unterschied zwischen Meinung in den Redebeiträgen und finalem Abstimmungsverhalten blieb auch Joe Kaeser, Aufsichtsratschef von Siemens Energy, nicht verborgen. Er konnte sich die süffisante Bemerkung nicht verkneifen, dass die Meinung, die mehrheitlich in Redebeiträgen geäußert werde, ohnehin selten mit den Abstimmungsergebnissen übereinstimme. Den durchaus problematischen Einfluss der Stimmrechtsberatungen ließ er unerwähnt. Dabei hatten wir und andere Aktionärsvereinigungen es 2022 nur mit einer außerordentlichen Anstrengung, aber immerhin erfolgreich geschafft, dass sich die reinen Konzerninteressen beim Gesetzgebungsprozess nicht vollständig durchgesetzt haben. Diese wollten etwa das Rederecht abschaffen.
Erfolgreiche Interventionen auf Präsenz-Hauptversammlungen
Nur 12 der Dax-40-Konzerne hatten sich für eine Präsenz-Hauptversammlung entschieden, darunter Adidas, BASF, Deutsche Post, Deutsche Telekom, Heidelberg Materials, Porsche und Volkswagen. Hier ist der Vorteil von Präsenz-Hauptversammlungen auch wieder unter Beweis gestellt worden: Es besteht eine höhere Medienaufmerksamkeit als bei virtuellen Hauptversammlungen.
Ein Beispiel, wie Präsenz-Hauptversammlungen von Gruppen der Klimabewegung als Anlass genommen werden können, um auf ihre Themen aufmerksam zu machen, gab Anfang Mai 2023 die Kampagne „Repression nicht zustellbar“. Um auf die unverhältnismäßige Reaktion der Deutschen Post nach einer Protestaktion gegen die umstrittene Erweiterung des Frachtflughafens Halle/Leipzig aufmerksam zu machen, haben die Aktivist*innen dem Vorstand direkt ihre Meinung zu den laufenden Gerichtsverfahren dargelegt, vor allem aber erneut die Gründe für ihren Protest erläutert. Vor dem Eingang organisierte die Gruppe eine Kundgebung und versuchte auch, mit Flyern mit den ankommenden bzw. wieder abreisenden Kleinaktionär*innen ins Gespräch zu kommen. Zusätzlich hatte die Gruppe auch eigens einen Gegenantrag verfasst, um auf die klimaschädlichen Expansionspläne der DHL-Frachtflugflotte und die miserable Klimabilanz hinzuweisen, die ganz im Gegensatz zu den Selbstdarstellungen der Deutschen Post bzw. DHL auch auf der Tagesordnung der Hauptversammlung stehen.
In vielerlei Hinsicht bemerkenswert waren die verschiedenen Interventionen auf der VW-Hauptversammlung am 10. Mai 2023 nicht nur, aber vor allem zum Thema der Risiken uigurischer Zwangsarbeit. Verschiedene Gruppen aus der Klima(gerechtigkeits)bewegung schlossen sich unserem Protest mit dem Weltkongress der Uiguren und der Gesellschaft für bedrohte Völker auf der Volkswagen-Hauptversammlung an, und einige machten das Thema sogar zu einem ihrer Hauptkritikpunkte an Volkswagen.
Auch in den folgenden Berichterstattungen zu Volkswagen, sei es allgemein oder in Bezug auf den Umgang mit den Zwangsarbeitsrisiken in China, wurde meist auf die Protestaktionen in und rund um die Hauptversammlung Bezug genommen. Auch eine längere Reportage des Zeit-Magazins über den Ablauf und die Folklore deutscher Präsenz-Hauptversammlungen kam nicht ohne ausführliche Beschreibung der VW-Hauptversammlung 2023 aus. Selbst die Unterbrechungen wurden auch von konservativen Medien wie der FAZ nicht gänzlich als unangemessen dargestellt. So schrieb Christian Müssgens in seinem Kommentar zu den Ereignissen auf der Volkswagen-Hauptversammlung:
„Natürlich müssen Gesetze eingehalten werden. Aber gleichzeitig wäre es zu leicht, die Aktionen als Werk einer Handvoll Spinner abzutun. VW steckt an vielen Stellen der Welt in so gravierenden Konflikten, dass man die diesjährige Hauptversammlung als Spiegel der Probleme sehen kann. Klimaschutz und China, niedriger Aktienkurs und Software-Probleme: all das bildet eine toxische Mischung, die den größten europäischen Autokonzern lange in Atem halten wird. Falsch wäre es auch, das Durcheinander auf dem Treffen als Argument zu nutzen, um künftig nur noch virtuell zusammen zu kommen. Die diesjährige Saison der Hauptversammlungen großer Unternehmen hat schon an vielen Stellen gezeigt, dass das digitale Format etliche Nachteile hat.“
Volkswagen ist bisher einer der wenigen Dax-Konzerne, die klar kommuniziert haben, dass ihre nächste Hauptversammlung 2024 rein virtuell und nicht mehr in Präsenz stattfinden wird. Damit kommen wir zu unseren Erfahrungen mit den virtuellen Hauptversammlungen.
Hürden und Probleme bei virtuellen Hauptversammlungen
Hier kann beispielhaft die Hauptversammlung von Siemens Energy erwähnt werden, die zusammen mit Thyssenkrupp Anfang Februar die Saison virtueller Hauptversammlungen 2023 unter neuen Bedingungen eingeläutet hatte. Wir konnten zu jedem unserer wichtigen Kritikpunkte einen eigenständigen, authentischen Redebeitrag einbringen: Emma Lehbib von der Saharauischen Diaspora in Deutschland sprach zur Situation in den besetzen Gebieten der Westsahara. So zementieren die Windparks von Siemens Gamesa die illegale Besatzung. Vladimir Slivyak von Ecodefense Russland und Patricia Lorenz von Friends of the Earth Europe kritisierten die Geschäfte mit Rosatom; Luisa Neubauer von Fridays for Future zusätzlich auch die Klimabilanz und LNG-Projekte. „Im Wohnzimmer von Luisa Neubauer“ titelte dann die WirtschaftsWoche ihren HV-Bericht.
Eine begleitende Protestaktion haben wir jedoch nicht mehr geschafft – hätte sie aber etwas gebracht? Die Frage nach Sinn und Zweck, vor allem den Kapazitäten für begleitende Protestaktionen beschäftigte uns sehr im weiteren Jahresverlauf.
Zum Glück konnten wir uns hier auf die Kreativität verschiedener Initiativen verlassen, die durchaus interessante Protestaktionen und Bilder geliefert haben, etwa Fridays for Future München bei BMW oder ein vielfältiges Protestbündnis gegen RWE in Essen. Pauline Brünger von Fridays for Future schaffte es sogar sowohl in der virtuellen Hauptversammlung von RWE als auch auf der Protestaktion in Essen vor der RWE-Konzernzentrale zu sprechen. Anna Lena Samborski von urgewald gelang es immerhin, eine Videobotschaft aus den USA in ihre Rede auf der virtuellen Hauptversammlung der Deutschen Bank zu integrieren.
Technische Probleme traten bei einigen virtuellen Hauptversammlungen auf. Sehr problematisch für uns waren die massiven Probleme und Verzögerungen bei der TUI-Hauptversammlung: Zwar konnte Markus Dufner nach über zwei Stunden Verzögerung sprechen, nicht aber Sönke Diesener, Verkehrsreferent beim NABU. Im Nachgang begründeten die Verantwortlichen die Probleme mit einer instabilen Internetverbindung bei Sönke Diesener, letztendlich klären ließ es sich nicht. Dies stellte aber die Ausnahme dar: Alle unsere weiteren Vertreter*innen konnten sprechen, auch wenn es hier und da gedauert hat, bis die Freigabe in den „virtuellen Warteraum“ erfolgt war.
Kaum ein Konzern bot die neue, leider nur optionale Möglichkeit an, Fragen schon vorab einzureichen, deren Antworten dann auch am Vortag der Hauptversammlung schon schriftlich veröffentlicht werden müssen. Dazu können dann Nachfragen mündlich in der virtuellen Hauptversammlung gestellt werden. Die aus unserer Sicht klaren Vorteile von erhöhter Transparenz und verbesserter Nutzung des Frage- und Auskunftsrechts bedeuten natürlich einen Mehraufwand auf Konzernseite. Bei den größeren Konzernen boten diese Möglichkeit lediglich die Lufthansa, E.ON und die Deutsche Bank sowie deren Fondsgesellschaft DWS an.
Die Kampagne „Am Boden bleiben“ stellte mit uns zusammen vorab Fragen an die Lufthansa, bei der Deutschen Bank nutzen dies ShareAction, urgewald und Facing Finance, bei der DWS zusätzlich auch Greenpeace; bei E.ON waren es GegenStrömung und Gruppen der Anti-Atomkraft-Bewegung.
Der Gesetzgeber schreibt zwar vor, dass die Antworten auf der Konzern-Webseite öffentlich sein müssen, allerdings nur vor und während der Hauptversammlung. So sind die Fragen und Antworten bereits kurz nach den Hauptversammlungen wieder von den Webseiten verschwunden. Wir hatten das PDF-Dokument mit den Antworten der Deutschen Bank rechtzeitig abgespeichert. Von uns und unseren Mitglieds- und Partnerorganisationen kamen immerhin 24 von 165 vorab eingereichten Fragen. Da die meisten Antworten doch Anlass zu Nachfragen gaben, haben Facing Finance und urgewald auch in der Hauptversammlung entsprechende Nachfragen gestellt. Sie konnten sich in ihren Redebeiträgen aber auf die wichtigsten Punkte konzentrieren und vor allem den Kontext ihrer Fragen erläutern. Bei der Beantwortung der Nachfragen hatte die Deutsche Bank aber sichtlich Mühe, denn so mussten sie zusätzlich prüfen, was genau nicht doch schon beantwortet worden war, welche Informationen sie nun doch noch zusätzlich gegen und an welchen Stellen sie sich auf das Geschäftsgeheimnis berufen.
So oder so können vorab einzureichende Fragen und Antworten den unmittelbaren Dialog mit den Vorständen nicht ersetzen. Ironischerweise gaben dies die meisten Vorstände als Grund an, warum sie sich gegen die Vorabeinreichung von Fragen entschieden hatten.
Quo vadis Hauptversammlungen in Deutschland?
Wir haben unser Bestes gegeben, damit zivilgesellschaftlichen Initiativen und Organisationen nach der Pandemie wieder stärker auf Hauptversammlungen präsent waren – ob nun virtuell oder in Präsenz. So haben auch wir mit dafür gesorgt, dass es wieder zu echten, lebendigen Debatten und einem argumentativ durchaus konfrontativen Aufeinandertreffen zwischen Kapital-, Umwelt- und Menschenrechtsinteressen auf Hauptversammlungen kommt.
Höchst problematisch ist jedoch das auch von Aktionärsseite schwindende Interesse an virtuellen Hauptversammlungen. Bei den meisten schalten sich deutlich weniger über ihren Computer dazu, dies ist auch ein Abstimmen mit den Füßen über dieses Format.
Die Umsetzung virtueller Hauptversammlungen durch die Konzerne müssen wir weiter genau verfolgen und kritisch bewerten. Letztendlich sind die gesetzlichen Vorgaben entscheidend, etwa wie oben beschrieben bei der Frage, ob Antworten öffentlich zugänglich bleiben müssen. Hier werden wir weiter auf eine Reform des Aktienrechts pochen.
Um die Relevanz der Hauptversammlung und die Mitspracherechte der Aktionär:innen zu stärken, sollte der Hauptversammlung das Recht zugestanden werden, über zentrale strategische Ausrichtungen zu entscheiden. Darunter sollten auch beispielsweise Maßnahmen zum Klimaschutz fallen. Dazu sollte es möglich sein, entsprechende Anträge zu Fragen der Geschäftsführung oder strategischen Ausrichtung der Aktiengesellschaft als Punkte auf die Tagesordnung zu setzen.
Hier ist abschließend eine Auswahl von Medienberichten, in der beispielsweise unsere Pressemitteilungen aufgegriffen worden sind – ohne Anspruch auf Vollständigkeit:
Volkswagen:
- https://taz.de/Kritischer-Aktionaer-ueber-Aktivismus/!5935742/
- https://www.ft.com/content/8ab97393-8aba-4bd4-a0cf-46897d820bc8
- https://www.reuters.com/business/autos-transportation/volkswagen-faces-fresh-investor-doubts-independence-planned-xinjiang-audit-2023-07-11/
- https://www.zeit.de/zeit-magazin/2023/29/hauptversammlungen-aktionaere-volkswagen-ag-airbus-washtec
- https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/unternehmen/volkswagen-steckt-in-allerlei-gravierenden-konflikten-18883988.html
Siemens Energy:
BMW:
Porsche:
RWE:
- https://www.nd-aktuell.de/artikel/1172916.klimaproteste-hauptversammlung-von-rwe-konzern-bleibt-klimakiller.html
- https://www.nrz.de/wirtschaft/rwe-hauptversammlung-was-aktionaere-und-kritiker-fordern-id238308831.html
Aurubis:
- https://taz.de/Hamburger-Aurubis-Konzern/!5912781/
- https://www.augsburger-allgemeine.de/wirtschaft/aktienkonzerne-aktivistengruppe-nutzt-hauptversammlungen-um-vorstaende-zu-kritisieren-id65880976.html
Heckler & Koch: