Norbert Winzen kämpft gegen die Zwangsumsiedlung durch RWE
Auf einem denkmalgeschützten Gutshof in Keyenberg in der Jülicher Börde lebt die Großfamilie Winzen. In ein paar Jahren muss sie dem Braunkohletagebau Garzweiler weichen. Eine Reportage von Markus Dufner
Freundlich lächelnd öffnet ein jugendlich wirkender Mann das Hoftor zur Holzweiler Straße und zwei große Hunde kommen Schwanz wedelnd herangelaufen. Norbert Winzen führt mich durch den großen Innenhof, in dem ein Trampolin und ein Klettergerüst stehen. Über einen Weg, der von Apfelbäumen gesäumt wird, gehen wir bis zum Ende des Grundstücks. Norbert blickt auf die Weide zurück, auf der ein Pferd und ein Pony grasen. Es leben 10 Familienmitglieder aus drei Generationen auf dem Hof. Am Wochenende mehr. Nach dem Tod von Norberts Vater vor sechs Jahren wurde der typisch rheinische Kleinbauernbetrieb mit damals noch 30 Milchkühen und Getreide- und Zuckerrübenanbau stillgelegt. Ein kleiner Traktor steht noch in einem der Schuppen, alle anderen Maschinen wurden an befreundete Bauern abgegeben.
Im Nachbarort Borschemich wurde vor kurzem das letzte Haus abgerissen, in Immerath stehen noch mehr Gebäude und der „Immerather Dom“. In Keyenberg leben heute keine 1000 Bewohner mehr. Ein Zehntel ist weggezogen. „Vor 15 Jahren entstanden bei uns sogar noch Neubauten. Aber langfristig betrachtet wird unser Dorf verschwinden“, ist sich Norbert Winzen sicher. Die Planer gehen davon aus, dass in zehn Jahren Keyenberg verschwunden sein wird.
Auf der anderen Seite von Erkelenz, etwa 10 Kilometer entfernt, entsteht Neu-Keyenberg. „Dorthin werden vielleicht 450 Keyenberger hinziehen. Vom Charakter des ehemaligen Dorfes wird nichts mehr übrig bleiben. Die neue Siedlung wird direkt an Erkelenz angeflanscht. Die Grundstücke sind kleiner als in Keyenberg, das Halten von Pferden oder Kühen im Ort wird dort nicht mehr erlaubt sein. Das Grundstück von Familie Winzen ist 8000 Quadratmeter groß. „In ersten Gesprächen hat RWE uns 500 Quadratmeter, dann 2000 Quadratmeter zum Ausgleich angeboten.“
Beim Rundgang durch Keyenberg ist Norbert Winzen anzumerken, wie stark er mit dem Ort verbunden ist, in dem er aufgewachsen ist. Er ist heute 53 Jahre alt, aber viele Kindheitserinnerungen sind präsent. „Es ist fast ein bisschen wie in Bullerbü. Der alte Schuster, die Bäckereiverkäuferin, der Tante-Emma-Laden, der zu Beginn des Jahres schloss.“
„Hier ist meine Heimat, mein Zuhause. Was jetzt stattfindet, ist eine Vertreibung“, sagt er in dem Bewusstsein, dass bei dem Begriff viele erst einmal an die Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten denken. „Wie dem auch sei: Es ist eine Zwangsumsiedlung. Was hier passiert, ist eine Enteignung dessen, was meine Eltern mir überlassen haben.“ Norbert Winzen muss zwar nicht von der Landwirtschaft leben und arbeitet als Berater für betriebliches Gesundheitsmanagement. „Trotzdem finde ich es unglaublich, dass in einem freien Land so tief von einem Konzern in meine Lebensplanung eingegriffen werden kann.“
RWE kappt die Wurzeln der Menschen
Wir kommen am Dorffriedhof vorbei. „Mein Vater liegt hier, der Landwirt Willi Winzen, und viele andere Verwandte. In fünf Jahren werden die Gräber ausgehoben und nach Neu-Keyenberg umgebettet.“ Am Ortsausgang angekommen, zeigt Norbert Winzen auf das in der Sonne funkelnde Ortsschild „Keyenberg. Stadt Erkelenz“ zu. „Das Schild ist neu, das alte hat jemand als Erinnerungsstück mitgehen lassen.“ Dann schweift sein Blick über die Äcker, die sich hinter Keyenberg erstrecken. „Der fruchtbare Löß der Jülicher Börde, der hier abgebaggert wird, ist acht bis zehn Meter dick. RWE stellt bei der Aufforstung nur Böden mit zwei Meter dicker Lößschicht her. Und man munkelt, dass RWE dafür sogar EU-Gelder erhält, für´s Zerstören der Schichten aber selbstverständlich keine Strafe zahlt.“
In einem früheren Wohnhaus ist ein RWE-Beratungsbüro untergebracht. An einer Hauswand hängt der Umsiedlungsplan für Keyenberg, Kuckum, Unterwestrich, Oberwestrich und Berverath. „Wir sind schon spät dran und werden wahrscheinlich nicht nach Neu-Keyenberg umziehen können, weil es kein Grundstück für so viele Personen gibt“, sagt Norbert Winzen. „RWE ist hier bisher überhaupt keine Hilfe.“
Eigentlich würde Norbert Winzen in seiner Freizeit lieber mehr mit seiner Akustik-Band beets´n´berries Musik machen, aber stattdessen muss er sich mit einem Konzern herumschlagen, der ihm und seiner Familie die Wurzeln kappt.“
Die Stimmung in Keyenberg liegt irgendwo zwischen Resignation, Misstrauen, Angst und Trauer“, sagt Norbert Winzen. „RW lässt sich meines Wissens von den Leuten schriftlich geben, dass sie über die Verhandlungen Stillschweigen bewahren müssen. Wir sind ja noch nicht ganz so weit. Daher kann ich das nur aus dem, was andere, bereits abgewickelte Keyenberger erzählt haben, vermuten.“
Umsiedler im Kampf mit Verhandlungsprofis
„Das ist ein wichtiger Punkt“, betont Norbert Winzen. „Es scheint, Transparenz will RWE um jeden Preis vermeiden. Jeder Fall wird einzeln zwischen RWE-Verhandlungsprofis und dem einzelnen Umsiedler auseinanderdividiert. Fast alle Umsiedler haben daher professionelle, eigenfinanzierte Berater, die beim finanziellen Kampf mit RWE helfen. Auch wir.“
„Seit Juli 2015 zahlt RWE auch nicht mehr für Bestandsaufnahmen oder Gutachten“, erklärt Norbert Winzen. „Diese braucht man aber, um überhaupt etwas bewerten zu können.“ Vom Hof der Winzens, der 1863 errichtet wurde, existieren keine Baupläne mehr. „Für all das sind wir bis jetzt schon mit etwa 20.000 bis 25.000 Euro in Vorleistung gegangen. Ob das am Ende mit entschädigt wird?“
Wir kommen an einem Wasserschloss vorbei, in dem Norbert Winzen seine ersten drei Lebensjahre verbracht hat. „Mein Großvater war in den 50er Jahren zum ersten Mal von RWE bzw. der Vorgängerfirma vertrieben worden, von seinem Hof in Königshoven bei Bedburg, und pachtete für eine Übergangszeit einen kleinen Teil des Wasserschlosses. Mein Vater war damals 14. In den 60er Jahren bot sich die Möglichkeit, den jetzigen Hof zu kaufen. Unsere Familie baute sich eine neue Existenz auf. Dann wurde auch hier Kohle gefunden und wir sollen wieder vertrieben werden.“
Bereits im Jahr 893 wurde eine Kirche in Keyenberg erwähnt. Die jetzige Heilig-Kreuz-Kirche wurde 1866 errichtet. Die Küsterin freut sich, Norbert zu sehen und fragt uns direkt: „Wollt Ihr die Kirche besichtigen?“ Durch die Sakristei betreten wir Heilig Kreuz. Norbert Winzen erinnert sich, wie er jeden Sonntag von seiner Oma in die Messe mitgenommen wurde und sie in der letzten Bank saßen. „Für die Keyenberger, egal ob gläubig oder nicht, ist die Kirche ein ganz emotionaler Ort. Wenn der entweiht wird, werden Tränen fließen.“
Die Gegend mit den fruchtbaren Böden war schon früh besiedelt. „RWE wird mit seinen Baggern auch hier auf viele Knochen stoßen. Vielleicht wie in Borschemich auf römische Siedlungen. Den Archäologen bleibt dann, wenn RWE sie überhaupt ruft, nach dem Aufbaggern nur wenig Zeit zum Dokumentieren.“
Die jetzige Gemeinschaftsgrundschule von Keyenberg war früher eine katholische Schule. Wir gehen an der Turnhalle vorbei, deren Ziegelsteinwände von den Schülern bemalt wurden: ein bunter Traktor, ein Apfelbaum, riesengroße Bienen und ein Honigbär. „Der Erdkundelehrer meiner Tochter am Cusanus-Gymnasium in Erkelenz sagte, dass er bald das Thema Braunkohle durchnimmt“, freut sich Norbert Winzen. Er habe gesagt, die Schüler sollten es sich von allen Seiten anschauen. RWE bietet für Klassen Führungen im Tagebau an und zeigt den Kindern die Bagger. „Ich habe angeboten, dass alle Klassen, die das Thema durchnehmen, auch unseren Hof in Keyenberg besuchen können. Ich will zeigen, was diese Bagger anrichten.“
Wir haben unseren Dorfrundgang beendet und sind zum Hof der Familie Winzen zurückgekehrt. Norbert Winzens Mutter Käthi empfängt uns in der gemütlichen Küche mit Marmorkuchen und Kaffee. Zu ihr gesellt sich noch der 11-Jährige Enkel Amon, der Sohn von Norberts Schwester. Wir reden über Fußball, den nicht weit entfernt liegenden Fußballverein Borussia Mönchengladbach, die legendären Spieler Heynckes, Wimmer, Bonhof und Vogts.
Eine wunderbare Kindheit im Dorf
Nach der Mithilfe in der Landwirtschaft fanden die sportbegeisterten Kinder von Käthi und Willi Winzen noch genügend Zeit zum Spielen. „Wir hatten eine wunderbare Kindheit“, erinnert sich Norbert. Beim Rundgang durch das Haus bleiben wir eine Weile im Wohnzimmer stehen, dem Prunkstück des Gutshofs mit schweren dunkel gebeizten Eichenmöbeln, Ölgemälden und Kronleuchter. „Als Kinder war das für uns kein Museum. Auf dem Sofa haben wir rumgeturnt. In den letzten Jahren nutzen wir das Zimmer weniger im Alltag, sondern hauptsächlich für Familienfeste.“
Kurz, bevor ich wieder von Familie Winzen wegfahre, kommen wir noch einmal auf die Braunkohle zu sprechen. RWE und der Tagebau sind allgegenwärtig: Am Horizont sehen die Keyenberger die qualmenden Kraftwerke des Konzerns. „An manchen Tagen breitet sich am Himmel eine braune Glocke aus“, sagt Käthi Winzen. „Bei Ostwind bekommen wir im Ort braunen Staub ab. Überall gibt es Baustellen von RWE, wo riesige Rohre verlegt und Pumpen installiert werden. Direkt hinter unserem Grundstück sind welche. Auf den Baustellen wird oft auch nachts gearbeitet.“ Norbert Winzen ergänzt: „Obwohl höchstens fünf Dorfbewohner bei RWE arbeiten, treiben sich ständig fremde RWE-Mitarbeiter in und um Keyenberg herum. Auch das empfinde ich als Belastung. Manchmal versuchen sie, sich bei Dorffesten einzuschleichen, obwohl sie zum Dorf keinen anderen Bezug haben außer als Abwickler. An dem Tag, an dem die Abrissbirne kommt, werde ich nicht im Dorf sein.“
Doch noch ist es nicht so weit. Die Winzens sehen nicht tatenlos zu, wie RWE ihr Dorf abbaggert. „Ich möchte, dass auch Menschen, die nicht aus der Region kommen, erfahren, was hier passiert. Dafür setze ich mich ein“, sagt Norbert Winzen.