„Informationen zur Nachhaltigkeit entsprechen nicht den vom Gesetzgeber verfolgten Zweck“: Rede von Andrea Behm

Sehr geehrte Damen und Herren,
sehr geehrter Vorstand und Aufsichtsrat, 

ich bin ein „Siemens-Kind“: Meine Eltern haben beide über 30 Jahre bei Siemens gearbeitet und ich selbst habe in den Semesterferien bei Siemens etwas zum Studium hinzuverdient. Heute setze ich mich als Juristin und Sprecherin der Gemeinwohl-Ökonomie für die nachhaltige Entwicklung von Unternehmen ein und spreche für den Dachverband der kritischen Aktionärinnen und Aktionäre.

Nach dem CSR-Richtlinien-Umsetzungsgesetz ist Siemens verpflichtet, jährlich eine nicht-finanzielle Erklärung abzugeben, die alle Angaben enthält, die für das Verständnis des Geschäftsverlaufs, des Geschäftsergebnisses, der Lage des Unternehmens sowie der Auswirkungen seiner Tätigkeit erforderlich sind und sich mindestens auf Umwelt-, Sozial-, und Arbeitnehmerbelange, auf die Achtung der Menschenrechte und auf die Bekämpfung von Korruption und Bestechung beziehen. Diese Berichtspflicht umfasst – und das ist für die Stakeholder besonders wichtig – auch die Darlegung der wesentlichen Risiken, die negative Auswirkungen auf Nachhaltigkeitsbelange wie Umwelt, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und Menschenrechte haben und die für die Geschäftstätigkeit bedeutend sind. Dargelegt werden muss auch, wie diese Risiken gehandhabt werden.

Nach den EU-Leitlinien zur nichtfinanziellen Berichterstattung[1] sollen sich die positiven und negativen Auswirkungen der Tätigkeit eines Unternehmens in klarer und ausgewogener Form wiederfinden.

Die Siemens-Berichterstattung für das Jahr 2019 überzeugt in dieser Hinsicht nicht, weil sie nicht nur unverständlich und inkohärent ist, sondern auch eine transparente und vollständige Input-Output-Messung der wirtschaftlichen Tätigkeit von Siemens vermissen lässt. Es stellen sich deshalb folgende Fragen:

1. Wann und wie will Siemens die UN Nachhaltigkeitsziele 2030 (SDG) in seine strategische Ausrichtung integrieren und in seiner Berichterstattung gesamthaft und mit ihren Interdependenzen betrachten?[2] Mit einem „Rainbow-Washing“ oder „SDG-Picking“, bei dem Siemens nur fragt, welche Ziele passen zu uns und wo machen wir bereits vieles und könnten davon berichten[3], ist es heute – fünf Jahre nach Verabschiedung der SDGs – nicht mehr getan.

2. Welche Initiativen, Maßnahmen und Programme wird Siemens ergreifen, um einen Kulturwandel in Richtung Geschlechtergleichstellung voranzutreiben? Bedauerlicherweise ist die Neueinstellung von Frauen von 2018 auf 2019 um 2 % gesunken.[4] Auch Siemens wird sich in Zeiten des generellen Nachwuchs- und Fachkräftemangels pro-aktiv um die Einstellung von mehr Frauen bemühen müssen. Und das nicht nur, um die Motivation der bereits bei Siemens arbeitenden Frauen zu stärken, sondern auch, um die Werteordnung unseres Grundgesetzes zu befolgen und zu den gesellschaftlichen Zielsetzungen in diesem Bereich einen sichtbaren Beitrag zu leisten.[5]

3. Siemens hat verkündet, hinsichtlich seiner eigenen direkten Emissionen bis 2030 CO2-neutral zu sein. Das ist erfreulich. Würden aber alle Unternehmen so emissionsintensiv wirtschaften wie es Siemens in seiner Lieferkette tut, würden sie – unabhängig vom Adani-Skandal – die völkerrechtlich verbindliche Pariser Klimagrenze von 1,5 Grad Celsius um ein Vielfaches überschreiten. Bis 2050 würde sich unsere Atmosphäre auf 4,3 Grad Celsius erhitzen.[6]

Wie und vor allem in welchem Zeitrahmen will Siemens zum Schutz der biologischen Vielfalt seine Governance-Struktur[7] samt zugehöriger Strategie und Risikomanagement überarbeiten? Welche fortschrittlichen Akzentsetzungen verfolgt der Vorstand im Dialog mit der Politik bei der Sichtbarmachung der externalisierten Kosten in der Lieferkette?

Wann wird Siemens den ambitioniertesten CSR-Standard anwenden und eine Gemeinwohl-Bilanz erstellen, um wirklich ein „good corperate citizen“ zu werden?[8] Wenn 500 kleinere und mittlere Unternehmen das schaffen, wieso sollte es ein Flaggschiff wie Siemens nicht schaffen?

4. Wie hoch ist die Bereitschaft des Siemens-Vorstands, Stakeholder aus der organisierten Zivilgesellschaft, wie zum Beispiel Vertreter*innen der Gemeinwohl-Ökonomie, in die Ausrichtung der Nachhaltigkeitsstrategie einzubeziehen, und wer wären hierfür die Ansprechpartner*innen?

Die vom Vorstand und Aufsichtsrat vorgelegten Informationen zur Nachhaltigkeit entsprechen nicht den vom Gesetzgeber verfolgten Zweck, nämlich, dass gerade große Unternehmen wie Siemens Verantwortung bei der Bewältigung des Übergangs zu einer nachhaltigen globalen Wirtschaft übernehmen müssen.

Deshalb werde ich beiden Gremien heute nicht die Entlastung aussprechen können.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Andrea Behm

Gemeinwohl-Ökonomie
GWÖ Sprecherin, NFI-Kampagne und Rechtsanwältin
www.ecogood.org | www.gwoe-bayern.org


[1] Vgl. EU C (2017) 4234, S. 11 und auch GRI 102-15

[2] Anders in den Siemens Nachhaltigkeitsinformationen 2019: SDGs dienen als „Maßstab“, um die Auswirkungen der Geschäftstätigkeit auf die Welt zu messen und zu bewerten. Die Aktivitäten von Siemens würden zum Erreichen „aller 17 Entwicklungsziele“ beitragen. (S. 2).

[3] Vgl. Siemens Nachhaltigkeitsinformationen 2019, S. 7 f.

[4] A.a.O, S. 18: Von 27% im Jahr 2018 auf 25 % im Jahr 2019.

[5] A.a.O, S. 61: Eine „Ermutigung“ zur Befolgung der Richtlinien zur Gleichstellung von Frauen ist nicht ausreichend.

[6] Vgl. www.right-basedonscience.de.

[7] Vgl. Siemens Nachhaltigkeitsinformationen 2019, S. 11: Die Entwicklungs-, Abstimmungs- und Kommunikationsprozessen des Siemens Sustainability Board sollten durch eine wie auch immer geartete Beiordnung von Vertreter*innen (Wissenschaftler*innen) der organisierten Zivilgesellschaft ergänzt und verbessert werden.

[8] Vgl. Siemens Nachhaltigkeitsinformationen 2019, S. 10: Siemens könnte damit tatsächlich zum „Vordenker für die nachhaltige Entwicklung von Gesellschaften“ werden.

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